Rezension: „Ein Update für unsere Demokratie. Politische Innovationen für mehr Mitbestimmung, Beteiligung und Transparenz“

Buchcover

Autor:innen

Das Buch, herausgegeben von Jascha Rohr, ist ein Sammelband, der 8. Mai 2025 im Oekom Verlag erschienen ist. Rohr ist Philosoph, Sozialunternehmer und langjähriger Experte für partizipative Demokratie. Er leitet das Institut für Partizipatives Gestalten und die Cocreation Foundation. Die Beitragsliste umfasst mehr als zwei Dutzend Autor:innen aus dem Bereich Governance-Design und Bürgerbeteiligung, darunter Jascha Rohr, Elke Fein, Claudine Nierth, Christian Felber, Alexandra Klobouk, Bernd Bötel, Christoph Burger, Thomas Deterding, Leonie Disselkamp, Dominik Fette, Raban Daniel Fuhrmann, Antje Hinz, Kristina Krömer, Josef Maiwald, Sophie Mirpourian, Anna Kückelmann, Clemens Oswald, Paula Rubertus, Lukas Salecker, Constantin Schäfer, Ute Scheub, Laurenz Scheunemann, Linus St rothmann, Bruno Wipfler, Susanne Zels, Andreas Zeuch, Sebastian Bohnet, Martin W. Boit, Stefan Körber, Vera Köhler und Axel Zietz.

Thema

Das Buch geht der zentralen Frage nach, warum es Demokratien schwerfällt, sich zu behaupten, und untersucht, ob das Design des Grundgesetzes nach 75 Jahren noch zeitgemäß ist. Es werden verschiedene, teils international erprobte Ansätze vorgestellt, die die Demokratie in Deutschland widerstandsfähiger und zukunftsfähiger machen könnten. Zu den diskutierten Herausforderungen zählen toxische Strukturen im Parlament, ein dysfunktionaler Parteienwettstreit, fehlende Komplexitätsbewältigung in der Gesetzgebung, eine politische Kultur des Gegeneinanders sowie der Einfluss von Rechtspopulismus und Polarisierung. Der Sammelband vereint Vorschläge zur Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie (z.B. Minderheitenregierung), zur Ergänzung durch direkte (z.B. Volksentscheide oder Bürgerausschüsse) und partizipative Elemente (z.B. Bundesbeteiligungswerkstatt, Bürgerräte oder Bundeswerkstatt) und zur Förderung einer politischen Kultur des Miteinanders (z.B. lernende Demokratie oder Tiny Rathaus) und präsentiert innovative Governance-Konzepte. Alle Beiträge beruhen auf realen Pilotprojekten und Initiativen und flossen in die „Bundeswerkstatt Demokratie-Update“ ein.

Aufbau

Das Buch gliedert sich neben der Einleitung in fünf Teile mit insgesamt 29 Kapiteln, in denen jeweils Governance-Expert:innen ihre Perspektiven und Lösungsansätze vorstellen.

I. Visionen

  • Kap. 4 plädiert für eine souveräne Demokratie, in der das Volk als vierte Gewalt durch direkte und partizipative Elemente gestärkt wird.
  • Kap. 5 fordert eine Bürgerdemokratie mit mehr Volksentscheiden und gelosten Bürgerräten.
  • Kap. 6 setzt sich für eine regelmäßige Erneuerung des Grundgesetzes durch den Souverän ein.
  • Kap. 7 betont die Bedeutung einer integrativen, dialogischen Diskurskultur und konsensualen Entscheidungsfindung.

II. Institutionen

  • Kap. 8 schlägt eine Bundesbeteiligungswerkstatt als zentrales Organ für kontinuierliche Bürgerbeteiligung vor.
  • Kap. 9 ruft zu einem neuen Miteinander im Bundestag mit extern moderierten Gesetzesinitiativen auf.
  • Kap. 10 beschreibt das Konzept eines lernenden Parlaments mit Coaching und Kompetenzförderung.
  • Kap. 11 empfiehlt ein Demokratie-Memorandum zur Förderung überparteilicher Zusammenarbeit.
  • Kap. 12 setzt sich für Bürgerausschüsse ein, um die Repräsentanz im Gesetzgebungsprozess zu verbessern.
  • Kap. 13 stellt partizipative Gesetzgebung mittels digitaler Plattformen und Dialogforen vor.

III. Entwürfe für bessere politische Kultur

  • Kap. 14 skizziert eine lernende Demokratie mit kontinuierlicher Reflexion und innovativen Dialogformaten.
  • Kap. 15 regt eine Vollversammlung Deutschlands zur gemeinsamen Verfassungsreflexion an.
  • Kap. 16 will Fragemut und Fragenkompetenz in der Bevölkerung durch kreative Formate stärken.
  • Kap. 17 zeigt, wie aufsuchende Demokratiearbeit in Straßenbahnen gesellschaftliche Kontroversen konstruktiv verhandeln kann.
  • Kap. 18 verbindet lokale Klimaschutzinitiativen mit demokratischer Beteiligung in „grünen Agoras“.
  • Kap. 19 präsentiert das „Tiny Rathaus“ als mobilen Begegnungsraum für Bürgerbeteiligung.

IV. Entwürfe für bessere Beteiligung und Mitbestimmung

  • Kap. 20 führt Wahlkreistage mit ausgelosten Bürger:innen zur Stärkung der repräsentativen Demokratie ein.
  • Kap. 21 beschreibt KI-gestützte Bürgerräte zur Unterstützung deliberativer Prozesse.
  • Kap. 22 entwickelt Zukunftscontainer für parteiübergreifende Lösungen bei komplexen Herausforderungen.
  • Kap. 23 bietet mit dem Forum Lebendige Demokratie vielfältige Beteiligungs- und Dialogformate an.
  • Kap. 24 plädiert für mehr Demokratie in der Arbeitswelt durch partizipative Organisationsmodelle.
  • Kap. 25 stellt die Bundeswerkstatt als kreativen Raum für gesellschaftliche Innovationen vor.

V. Entwürfe der Bürger-Expert:innen

  • Kap. 26 schlägt ein Demokratiejahr als Freistellungszeit für gesellschaftliches Engagement vor.
  • Kap. 27 verbindet Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten in moderierten Bürgertandems.
  • Kap. 28 empfiehlt Minderheitsregierungen zur Überwindung von Blockaden im Parlament.
  • Kap. 29 plädiert für eine Entscheidungsfindung, die sich ausschließlich an rational-wissenschaftlichen Kriterien orientiert.

Diskussion

Der Sammelband ist ein inspirierendes und hochaktuelles Werk und bietet eine eindrucksvolle Vielfalt an konkreten und visionären Ansätzen zur Weiterentwicklung der Demokratie – praxisnah, gut lesbar und theoretisch fundiert. Die Beiträge sind trotz hoher Expertise sehr zugänglich, beginnen meist mit einer Zusammenfassung und enden mit einer Visualisierung, was die Zugänglichkeit erhöht. Die Ansätze reichen von abstrakten Visionen bis zu konkreten Vorschlägen und variieren daher hinsichtlich ihrer Flughöhe. Besonders gelungen ist die modulare Struktur der Beiträge - sie ergänzen einander wie ein modularer Werkzeugkasten für die Praxis. Würden nur einige dieser Ansätze umgesetzt werden – so der Herausgeber des Sammelbands, könnte die Bundesrepublik ein notwendiges Update erfahren.

Auch wenn manche neuere E-Governance-Diskursthemen wie z.B. Smart Legislation oder Liquid Democracy, kaum bzw. nicht behandelt werden und die Tiefe einzelner Beiträge begrenzt ist, schmälert dies nicht den Wert des Buchs: Es richtet sich explizit an politische Entscheider:innen und interessierte Bürger:innen, die nach innovativen Wegen suchen, um die Demokratie in Deutschland zu stärken. Insgesamt ist das Buch eine anregende, innovative und äußerst lesenswerte Lektüre für alle, die Demokratie nicht nur verteidigen, sondern aktiv gestalten wollen.

 

Karim Fathi

Dr. Karim Fathi forscht, berät und lehrt in Berlin. Er ist Autor mehrerer Buchbeiträge zu den Themen gesellschaftliche Multiresilienz, integrierte Konfliktbearbeitung und Empathie 3.0. Zuletzt war er beratendes Mitglied des Zukunftskreises 2020-2023 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Darüber hinaus ist er freiberuflich für verschiedene Beratungsinstitute und Think Tanks zu den Themen Kompetenzentwicklung und Friedensforschung tätig.